Heteronym

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? So die Frage, vielmehr der Titel eines 2007 veröffentlichten Werkes eines gewissen Richard David Precht, einem von der Hardcore-Fraktion in der Philosophengilde wohl am schiefsten angeschauten Autor. Aber darum geht's nicht …

Im Zeitalter der Avatare fragt sich das wahrscheinlich heutzutage sowieso kein Schwein mehr. Obwohl es gewaltige Unterschiede gibt. Aber der Reihe nach. Auf die Spitze getrieben hat es wohl (oder übel) unser nur schwer fassbarer portugiesischer Freund Fernando Pessoa (1888 – 1935). Seine wichtigsten (von in Summe 72!) Avatare, sprachwissenschaftlich: Heteronyme – und man lese und staune Halb-Heteronyme – sind: Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos, Bernardo Soares sowie die Brüder Charles James und Alexander Search.

In Abgrenzung zum bekannten Pseudonym wird das Heteronym mit einer detailreichen, umfassenden Biografie ausgestattet. Diese Kunstfigur schreibt dann auch und kann – wenigstens bei Fernando Pessoa – selber wiederum ein Pseudonym annehmen.
Die Beziehung, das Verhältnis von Pessoas Heteronymen unter- und zueinander, ihn eingeschlossen, ist widersprüchlich und kaum zu entschlüsseln. Pessoa äußert sich über ihre unterschiedlichen Schreibstile und bewertet diese. So sagt er etwa über Ricardo Reis: »Reis schreibt besser als ich (?), aber mit einer Reinheit, die ich übertrieben finde« …

24.000 Manuskripte, Prosa, Lyrik, dramatische Skizzen sowie politische, soziologische und philosophische Schriften hat Fernando António Nogueira de Seabra Pessoa hinterlassen. Veröffentlicht wurde zu Lebzeiten kaum etwas. Ruhm und Anerkennung bleiben ihm in seinem kurzen, mit Alkohol und Nikotin angereicherten Leben verwehrt.

Sein bekanntestes Werk »Das Buch der Unruhe« (die fiktiven Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares) erscheint erst 47 Jahre nach seinem Ableben. Dazu Pessoa (oder Soares?): »Wir alle, die wir träumen und denken, sind Hilfsbuchhalter … wir führen Buch und erleiden Verluste, wir zählen zusammen und gehen weiter; wir ziehen Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.« Das Werk, so eine vorsichtige Warnung, sei »nicht ohne Traurigkeit und Kälte«.

Pessoa ist sicher eine außergewöhnliche Figur, deren Hauptinteresse, bekanntlich nicht so selten, die berühmten letzten Fragen sind; mit vielleicht ein wenig zu viel Nihilismus, aber immer mit einer feinen Gratwanderung zwischen literarischer Genialität und Abgründen, die man Wahnsinn nennen könnte.

»Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.« – schreibt Pessoa im Vorspann zum »Buch der Unruhe«.

Mittlerweile gilt Fernando Pessoa als einer der bedeutendsten portugiesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Das weiß nicht zuletzt sein Landsmann, der Nobelpreisträger für Literatur (1998), José de Sousa Saramago (1922 - 2010) zu würdigen. Er hat eines der Heteronyme Pessoas zu neuem Leben erweckt und zu einem Hauptdarsteller in seinem Roman »Das Todesjahr des Ricardo Reis« gemacht. Saramago habe damit, so wird auf dem Klappentext der »El Mundo« zitiert, dem Dichter Fernando Pessoa ein Denkmal gesetzt.

Die Lektüre der angeführten Bücher – respektive deren Übersetzungen: Inés Koebel für Pessoa und Rainer Bettermann für Saramago – wird hiermit wärmstens empfohlen. //(clash)